Saul hatte sein eigenes Leben, das seiner Kinder, sein Königreich und die gesamte Dynastie verloren. Wegen seiner Hartnäckigkeit, seinen politischen Rivalen auszuschalten, vergaß er die externen Bedrohungen. Die Philister zögerten nicht, einen Gegenangriff im Norden zu planen, da sie wussten, dass ihr größter Rivale, David, nicht in den Reihen der Israeliten mitkämpfen würde. Es hätte keinen besseren Zeitpunkt geben können, um mit aller Wucht anzugreifen, wenn man bedenkt, dass ihr eigener Held Goliath von gerade diesem Krieger namens David besiegt worden war. Es war, wie wenn Real Madrid wüsste, dass Messi nicht für Barcelona spielen wird, und in Madrid Zuflucht sucht.
Doch bevor die beiden Heere sich gegenüber stehen, erläutert der Autor der Bücher Samuel ein faszinierendes Ereignis von König Saul auf der Suche nach dem Willen Gottes. Saul, in all seiner Unsicherheit, suchte nach Gottes Meinung zur kommenden Schlacht. Nachdem er seine Familie verwettet hatte, um sich seine Macht zu sichern, benutzt er nun das Heilige als Mittel, um das Ziel zu erreichen, auf das er so versessen war.
Saul handelt mit dem Heiligen
Saul, der in sich selbst unsicher ist, möchte vor der nächsten Schlacht gegen die Philister Gottes Willen wissen. Im Alten Testament gab es grundsätzlich drei Arten, Gott zu bitten, seinen Willen zu offenbaren, immer dann, wenn es sich um Angelegenheiten handelte, die das gesamte Volk betrafen. Meist wurden diese Offenbarungen den Führern des Volkes übertragen: 1) Träume / Visionen, 2) Urim und Turim, und 3) die Propheten. Diese drei Wege waren erlaubt, im Gegensatz zur Astrologie, zur Befragung der Toten (Nekromantie) und zu anderem, wodurch jemand versuchte, den Willen Gottes zu erkennen. Saul hatte bereits auf diese drei Arten versucht, den Gottes Willen zu erfahren, um zu wissen, ob er in den Krieg ziehen sollte oder nicht:
6 Er fragte den Herrn um Rat, erhielt aber keine Antwort, weder durch Träume noch durch das Los noch durch einen Propheten.
1 Samuel 28:6 (HFA)
Die Totenbeschwörerin von En-Dor
Saul macht deutlich, dass er dringend einen „Totenbeschwörer“ oder einen „Spiritualisten“ braucht (1 Sam 28:7). Das hebräische Wort für solch eine Person ist בַעַלַת־אוֹב und ausgesprochen wird es ba´alat-ob. Wortwörtlich bedeutet es „Besitzerin des Geistes„, Nekromant. Nekromantie war ein bekannter Brauch in fast allen alten Kulturen, so wie die sumerische (Babylon), ägyptische (zB Briefe an die Toten), hethitische (zB Nekromantieprotokoll), kanaanitische (zB 1 Sam 28:7), oder die griechische (zB die Odyssee) usw.[1] Interessant ist, dass Wikipedia 61 Videospiele auflistet, die Nekromantie enthalten. Im Alten Osten, die Welt des Alten Testaments, waren dieses übliche Praktiken.
Šamaš, Sonnengott der Unterwelt
Für Saul war es wichtig, sich zu verkleiden, weil er ja schließlich derjenige gewesen war, der „die Totenbeschwörer und Wahrsager aus Israel vertrieben“ hatte (1 Sam 28: 3). Außerdem, war nachts (1 Sam 28:8) eine gute Zeit, um die Befragung der Geister erfolgreich durchzuführen. Der Name „Besitzerin des Geistes“ (ba´alat-ob) ist fast identisch mit einem der Beinamen (Titel eines Gottes) des Gottes Šamaš (Shamash) von Mesopotamien, der der Sonnengott war. [2] Er war der Gott der Gerechtigkeit, der durch die Sonne dargestellt wurde. Tagsüber richtete er die Erde und nachts die Unterwelt. Deshalb konnte die „Besitzerin des Geistes“ nachts besser mit den Toten arbeiten. Šamaš ist der Gott, der Hammurabi die Gesetze für sein Volk gegeben hat.
Vielleicht denkt der Leser, dass dies unmöglich etwas mit dem biblischen Text zu tun haben kann. Aber man muss dazu sagen, dass die Hethiter nördlich von Kanaan, die gleiche Idee hatten und diese Idee sich auch in das kanaanitische Volk eingeschlichen hatte. Man sollte bedenken, dass Šamaš dem hebräischen Wort für „Sonne“ sehr ähnlich ist: šemeš (shemesh), und dass die Gesetze der Tora denen des Kodex-Hamurabi sehr ähnlich sind. Es handelt sich hierbei nicht um eine Kopie, sondern einfach um eine Welt, die von mehreren Völkern geteilt wurde, die viele Dinge gemeinsam haben.
Das Treffen
…Es war Nacht, als er bei der Frau ankam. »Ich möchte, dass du mir durch den Geist eines Verstorbenen die Zukunft voraussagst«, begann Saul. »Ich will mit einem ganz bestimmten Menschen reden. Bitte beschwör seinen Geist, damit er aus dem Totenreich heraufkommt!« … 11 »Wen soll ich dir heraufholen?«, wollte die Frau wissen. »Ruf Samuel herauf!«, antwortete Saul. 12 Als die Totenbeschwörerin Samuel kommen sah, schrie sie laut auf und fuhr Saul an: »Warum hast du mich hereingelegt? Du selbst bist Saul!« … »Ich sehe einen Geist aus der Erde heraufsteigen«, antwortete sie. 14 »Wie sieht er aus?«, fragte Saul. »Es ist ein alter Mann. Er ist in einen Mantel gehüllt.« Da wusste Saul, dass es Samuel war…
1 Samuel 28:6-14 (HFA)
Diese Geschichte ist sehr spannend und mysteriös. Saul bittet die Totenbeschwörerin, „Samuels Geist zu beschwören“ (1 Sam 28:8), und dann sieht die Frau ihn „aus der Erde heraufsteigen“ (1 Sam 28:13). Bereits in der ersten ins Spanische übersetzten Bibel schrieb Casiodoro de Reina 1569 in diesem Kapitel so: „Saul … befragt den Teufel durch eine Hexe. Der Teufel in der Gestalt Samuels kündigt ein katastrophales Ende für ihn und seine Kinder an … „Also verbindet er es direkt mit dem Teufel. Aber hier gilt nicht die Art und Weise, wie wir die Dinge sehen, sondern das, was der Text seinerzeit sagen wollte.
Der Text sagt, dass Saul darum bat, dass man ihm Samuel bringe. Der Erzähler selbst erklärt, dass „die Totenbeschwörerin Samuel kommen sah“ (1 Sam 28:12) und dass “ Saul wusste, dass es Samuel war“ (1 Sam 28:14). Der Text scheint dem etwas zu widersprechen, was Casiodoro de Reina erklärt. Darüber hinaus stimmt das Wesen, das mit Saul spricht, vollkommen mit dem überein, was Gott entschieden hatte, nämlich dass es für Saul nicht mehr in Frage kam, in den Krieg zu ziehen.
Der Teufel oder Samuel?
Samuel wird als „Geist“ (1 Sam 28:8), als „ein Gott“ (1 Sam 28:13 – LUTH1545) und als „alter Mann in einen Mantel gehüllt“ (1 Sam 28:14) beschrieben. Diese drei Begriffe, Geist, göttlich (auf Hebräisch im Plural) und alter Mann in einem Mantel, stellen einen Toten dar, der nach seinem Tod auf übernatürliche Art und Weise existiert. [3] Dies sieht man auch, wenn man in Jes 8:19 „tot“ übersetzt, was das gleiche Wort von „göttliches Wesen“ ist.
Wer da erscheint, ist weder der Teufel noch ein Gott noch ein Dämon. Was der Frau Angst einjagt, ist nicht, Samuel zu sehen; sondern zu begreifen, wer sie um diesen Gefallen gebeten hatte, nämlich Saul. Und gerade er war ja eben auch die größte Bedrohung für die Nekromanten, nicht die Toten oder die Dämonen selbst. Jedoch ist es schwierig einzuordnen, was Samuel Saul bei der Gelegenheit sagt: „Morgen schon werden du und deine Söhne bei mir im Totenreich sein“ (1 Sam 28:19). Was Samuel meint ist, dass Saul und seine Söhne im Sheol tot sein würden.
Lateinamerikanische Schlussfolgerung
Wenn wir gut zuhören, was die Bibel lehrt, können einige unserer Überzeugungen ins Wanken kommen, aber wir sollten uns die Frage stellen, was gefährlicher ist; das zu glauben, was wir schon immer geglaubt haben, oder das zu glauben, was die Bibel lehrt. Die Absicht hier ist nicht, irgendeinen Glauben anzugreifen, sondern dazu beizutragen, dass der Leser im Glauben wächst indem er erkennt, was die Bibel zu lehren versucht.
Saul, in seiner Unsicherheit, besessen von seinem guten Ansehen, hatte seine Familie verkauft und nun sogar das Heilige für eigene Zwecke benutzt. Für jeden Mächtigen und insbesondere für Leute in der Gemeinde rät der Autor von Samuel ganz klar davon ab, das Heilige für eigene Zwecke zu benutzen. Alles zu verkaufen, um die ersehnte Macht zu behalten, war nicht nur ein Problem von Saul, sondern es ist immer noch ein Problem, bei dem die Mächtigen eine „Selbstbindung“ entwickeln, um die Macht für alle Ewigkeit zu behalten. Jegliche Ähnlichkeit mit der lateinamerikanischen Realität ist wahrscheinlich kein reiner Zufall.
[1] John H. Walton, Zondervan Illustrated Bible Backgrounds Commentary (Old Testament): Joshua, Judges, Ruth, 1 & 2 Samuel, vol. 2 (Grand Rapids, MI: Zondervan, 2009), 380–381.
[2] David Tsumura, The First Book of Samuel, NICOT (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2007), 622.
[3] T. J. Lewis, “The Ancestral Estate (naḥălat ’ĕlōhîm) in 2 Samuel 14:16,” JBL 110 (1991) 602–3