Das Loblied in Kolosser 1,15-20

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Tod am Kreuz: Die zerrissene Welt. Gemalt von Adolfo Pérez Esquivel

Interessanterweise gibt es viele Beweise dafür, dass die Anbetung bei den Heiden mit viel Musik zusammenhing, aber wir haben fast keine Beweise dafür, dass in der jüdischen Synagoge Loblieder oder Psalmen gesungen wurden. Obwohl Christen die Form und den Inhalt der Anbetung der Juden beibehalten haben, führten sie die Musik ihrer eigenen Kulturen ein, um Gott, und vor allem Christus, den Messias Gottes, zu preisen.

In Paulus´ Brief an die Kolosser finden wir einen Abschnitt, den wir als gut markierten lyrischen Text definiert haben. (siehe vorheriger Blog) Diese Schreibweise ist dadurch zu erkennen, dass Paulus in all seinen Briefen seine Worte an die Leser richtet. Aber in Abschnitten wie Kolosser 1,15-20 verwendet er weder die erste Person (ich oder wir) noch die zweite Person (du oder ihr); dieser Abschnitt ist nicht persönlich und komplett in dritter Person (er) geschrieben. Es gibt viele Studien über die Metrik (Verslehre), die versuchen, die Strophen zu definieren. James Robinson präsentiert bereits 1967 in seinem Artikel „A Formal Analysis of Colossians 1:15-20“ eine Reihe von Studien zu diesem Loblied. Ernst Käsemann nannte es eine Taufliturgie und Martin Dibelius ein Geständnis. Aber hier geht es eher um den Inhalt als um die Form, obwohl beide immer voneinander abhängig sind.


Die bemerkenswerten Teile des Loblieds über den Christus sind folgende:

Erstens ist Jesus das Ebenbild des unsichtbaren Gottes (1,15a). Im Griechischen ist das Wort für Ebenbild εικον und bedeutet Symbol. Es ist wie ein Symbol im Computer. Das Symbol führt dich direkt zum eigentlichen Programm. Unsere Analogie mit dem Computersymbol stimmt nicht ganz, denn das Programm verändert sich nicht unbedingt, wenn das Symbol gelöscht wird. Jesus zu töten bedeutete jedoch direkt gegen Gott Krieg zu führen. Das Lied erinnert die Christen daran, dass es Christus ist, auf den wir schauen müssen, um zu verstehen, wie wir unseren Schöpfergott widerspiegeln können, den wir nicht sehen.

Zweitens ist Jesus der Erstgeborene (1,15b). Dabei muss beachtet werden, dass Paulus hier nicht von der Chronologie der Geburten der Kinder Gottes spricht. Das Wort „Erstgeborener“ bedeutet im Neuen Testament normalerweise eher Autorität. Jesus ist der Führer, der das Sagen hat. Dass Jesus chronologisch der erste ist, wird in Vers 17 erklärt.

Drittens ist die Weisheit Gottes, der jüdischen Tradition zufolge, das Instrument, durch das die ganze Welt geordnet und funktionsfähig geschaffen wurde. In Sprüche 8,22-23 heißt es:


Der HERR schuf mich [die Weisheit] vor langer Zeit, ich war sein erstes Werk, noch vor allen anderen. In grauer Vorzeit hat er mich gebildet; und so war ich schon da, als es die Erde noch gar nicht gab.

Sprüche 8,22-23


Für Paulus nimmt Jesus den Platz ein, den im jüdischen Denken die „Weisheit“ hatte und er ist Gottes Vertreter für die Schöpfung und die Erlösung. (Siehe auch Weisheit 9,9-10, 17-18.) Jesus übertrifft die Weisheit und steht über allem anderen.

Viertens ist Jesus das Haupt des Leibes (1,18). Interessant ist, dass unser Verstand automatisch an Chronologie denkt, wenn man vom Erstgeborenen spricht, und an Autorität und Kontrolle wenn es ums Haupt geht. Es ist eher eine Metapher, denn niemand auf der Welt glaubt, dass Jesus keine Hände hat. Es ist nicht wortwörtlich ein Haupt, sondern, wie in unserer Poesie, ist das Haupt das Bild einer theologischen Botschaft. In diesem Fall bedeutet Haupt eher die Quelle des restlichen Körpers. Die Metapher des Wortes Haupt im Griechischen bedeutet normalerweise Quelle des Lebens, statt Autorität. Offensichtlich ist es nicht so, dass der Christus keine Autorität hat, aber da Er den Platz der Weisheit einnimmt, war sie die Quelle des Lebens in der Weisheitsliteratur (siehe Sprüche 8,35) und Christus nimmt diesen Platz ein. Zusammenfassend:

Schließlich endet das Loblied mit dem Höhepunkt und betont Christus und das Kreuz als Mittelpunkt (1,20). Dies ist ein Merkmal, das Teil des Zentrums des primitiven Christentums ist: Christus und das Kreuz. Zwei Worte, die der Jüngerschaft inmitten grausamer Verfolgung einen Sinn gegeben haben.


„Während das Christuslob im Kolosserbrief Jesus Christus gedenkt, beschreibt es gleichzeitig die ultimative Realität, die seine Leser befähigt, in dem Reich des geliebtem Sohnes zu leben.“

Michael Heiser


 

Von der Anbetung der ersten Gemeinden kann man Folgendes lernen:

  1. Die Gemeinde war ganz eindeutig christozentrisch!
  2. Sie forderte die Teilnehmer dazu auf, auf bestimmte Art und Weise die Realität der Ereignisse aus dem Leben, dem Tod und der Auferstehung Jesu zu sehen. Das heißt, alles musste auf eine neue Art und Weise analysiert werden, den Blick auf Jesu Leben und Werk gerichtet.
  3. Die Gemeinde hatte ihre Wurzeln in der jüdischen Vorstellung von Gott und nicht in der Gnostik oder anderen Richtungen.
  4. Sie benutzte die heiligen Schriften auf eine gute Art und Weise und war kreativ in ihrer Exegese, die das Neue, das Gott geschaffen hatte, erklärte.
  5. Die Idee von Anbetung in den ersten Gemeinden war der Tradition der Psalmen und der Weisheitsliteratur sehr nahe.
  6. Sie nutzte kulturelle Formen der griechisch-römischen Welt, indem sie Bilder ihres Kontexts und ihrer Musik einführte.
  7. Sie war sich ihres sozialen Kontextes wie auch der Unterdrückung gegenüber Gottes Volk bewusst.
  8. Sie half den Teilnehmern beim Widerstand gegen heidnische Überzeugungen und schenkte dem Volk Gottes Ausdauer während ihrer Unterdrückung.
  9. Die Sprache in Bildern und Metaphern gab den Emotionen beim Singen freien Lauf und schuf ein Identitätsgefühl als Gottes Volk.

Hiermit wird dieses Loblied ein erhöhtes und gleichzeitig tiefbewegendes Gedicht. Es begegnete seiner gegenwärtigen Kultur und widerstand den einfachen Antworten auf dringende Fragen der Zeit.


Die letzten Punkte sind aus Matthew Gordley, New Testament Christological Hymns entnommen.


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